IWW Österreich | die solidarische Gewerkschaft

Keine falschen Hoffnungen: Die Ausbeutung geht weiter – unser Kampf auch

on 1. Mai 2020 Aufrufe with 0 comments

Stell dir vor, es ist der 1. Mai inmitten der größten Arbeitslosigkeit seit 1945: Und (fast) keiner geht hin. Wie bei so vielen Dingen zurzeit bedeutet das einen tragischen Einschnitt, dem zumindest wichtige Erkenntnisse abzuringen sind: Was als großer Kampftag begann, ist schon seit Generationen ein rituelles Stell-dich-ein der Staatsräson. Wenn am Rathausplatz noch schnell die Internationale angestimmt wird, bevor es zum Würschtlstand geht, dann wissen alle Anwesenden: Hier wird nicht die Welt verändert, höchstens noch ein Parteichef davongejagt. Dieses Jahr spüren wir das besonders.

Und so müssen wir leider feststellen, dass die Welt am 2. Mai auch dieses Jahr aussieht wie am 30. April. Das einzige, was dieses Jahr fehlt, ist das zertrampelte Partei-Fähnchen auf der Straße. Doch freudig stimmt das nicht, während unzählige Schicksale die Räder eines Systems zu spüren bekommen, das nie für sie gedacht war.

DIE AUSBEUTUNG GEHT WEITER – UNSER KAMPF AUCH
Ein ernüchterter Redebeitrag der IWW Wien zum Ersten Mai des Seuchenkapitalismus

Die Zahlen sind brutal. In Österreich erleben wir die höchste Arbeitslosigkeit seit 1945, mehr noch: So viele Arbeitslose gab es auch in der 1. Republik nicht. Eine halbe Million Menschen in Österreich steht derzeit ohne Lohnarbeit da: Doppelt so viele als im Vorjahr. Und das ist nur eine Momentaufnahme, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes längst überholt ist. Was sich leider nicht ändern wird: Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund sind von der aktuellen Kündigungswelle überproportional betroffen. Während die einen, zum Nichtstun verdammt, um ihre Existenz bangen müssen, müssen die anderen alle Last schultern. Vor allem im Pflege- und Sozialbereich, aber auch in anderen Branchen, müssen viele Arbeiter*innen zusätzlich massive Überstunden leisten, als ob der normale Wahnsinn sie nicht schon genug gefordert hätte. In Krankenhäusern ebenso wie in Pflegeeinrichtungen schuftet medizinisches Personal und Pleger*innen weit über der Schmerzgrenze. Auch in unzähligen Büros konzentriert sich derzeit die Arbeit auf den Schultern jener wenigen, die nicht in Kurzarbeit geschickt wurden. Wer wiederum das Privileg der Kurzarbeit genießt, sucht in der seltsamen Situation der Ausgangssperre kombiniert mit unerwartet viel “Freizeit” nach Formen der Beschäftigung. Doch es entschleunigt sich nicht leicht in der apokalyptischen Stimmung. Die bedrückende Atmosphäre bleibt. Nicht nur die Arbeitswelt, die Produktionssphäre, scheint global auf den Kopf gestellt. Nahezu sämtliche Bereiche der Gesellschaft sind stark verlangsamt oder im Stillstand.

The end of the world as we know it?
Schon bald kamen die ersten linken Analyseversuche der aktuellen Situation. Es fällt jedoch auf, dass die Linke und Linksradikale unbeholfen mit dieser unsichtbaren Feindin umgeht. Vor allem zwei Argumentationsmuster prägen dieser Tage die meisten Texte: Erstens jenes der sozialen Aspekte, also die Beschreibung und Kritik des kaputtgesparten Gesundheitssystems, der Pflege oder der durch Konkurrenzprinzip gelähmten Forschung. Das zweite Argumentationsmuster problematisiert die staatlichen Maßnahmen, den weiteren Ausbau totalitärer Tendenzen, die Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten und die Zunahme an staatlicher Überwachung und Kontrolle. Der Blick in die Zukunft fällt dann meistens, so der Eindruck, positiv aus: Die Fragilität des kapitalistischen Systems werde allen deutlich, sein Taumeln würde die Krisenanfälligkeit offenlegen und die Welt “danach” werde jedenfalls eine andere sein. Mit dem ergänzenden Hinweis auf vereinzelte widerständische Kräfte vielerorts, etwa durch Streiks sowie einer Welle der Solidarität durch Nachbarschaftshilfen und Ähnlichem, entsteht so das Bild einer gesellschaftlichen Entwicklung, die den Anfang vom Ende einläutet.
Ohne diese Aufbruchsstimmung bremsen zu wollen und in aufrichtigster Hoffnung, eines Besseren belehrt zu werden, sehen wir eine Welt vor uns, die dem nicht Folge leistet. So haben die aufrichtigen Bemühungen der Arbeiter*innen in der Sozialwirtschaftsbranche, sich endlich einen etwas besseren Kollektivvertrag zu erkämpfen, im Fahrschatten der Coronakrise einen enormen Rückschlag erhalten. Aus der Mindestforderung einer 35-Stunden-Woche wurde eine Reduktion der Arbeitszeit ab 2022 (!) um eine (!) Stunde, die sich die Arbeiter*innen durch eine Reduktion der Überstundenzuschläge gleich noch selbst bezahlen. Auf drei Jahre hin wurden damit den Kräften der Arbeiter*innen Fesseln angelegt, die zeigen, dass die Systemgewerkschaften und auch die Sozialwirtschaft selbst immer nur eine passende Gelegenheit vom Übergehen unserer Bedürfnisse entfernt sind. Was tun, in dieser Zeit der Rückschläge, Isolation und Vereinzelung?

La lotta continua!

Zunächst sollten keine falschen Hoffnungen geschürt werden, um eine große Enttäuschung zu vermeiden. “Geduld ist eine revolutionäre Eigenschaft”. Wir werden einen langen Atem brauchen, um irgendwann nicht schwächer, sondern stärker dazustehen. Wir werden vermutlich einer Stimmung der Apathie, der Erholung, des Durchatmens entgegenwirken müssen. Der zynischen Rede einer “Chance”, die das massenhafte Sterben eröffnet, sollte nüchtern entgegengehalten werden, dass die kommende Krise mit großer Wahrscheinlichkeit nicht den kommenden Aufstand einläuten wird. Dennoch ist das mitnichten ein Plädoyer zur Resignation. Im Gegenteil: Je realistischer wir die Ausgangslage einschätzen, desto besser sind wir vorbereitet. Vielversprechend ist beispielsweise die Ausgangslage von Arbeiter*innen im Pflege- und Gesundheitsbereich. Dass man von Dankesreden und Klatschgesten keine Miete bezahlen kann, leuchtet allen ein. Hier wäre gerade durch Corona wohl großer gesellschaflicher Rückenwind für Arbeitskämpfe zu erwarten. In anderen Sparten werden die Kämpfe sich wohl mehr gegen Kürzungen und eine weitere, bevorstehende Entlassungswelle richten müssen. Wie sich ökonomische, soziale und politische Kämpfe verknüpfen lassen, sollte Gegenstand künftiger Strategiedebatten sein. Parkett von Debatten und Kämpfen, die nicht in der Vereinzelung aufgehen wollen, ist die Organisierung. Wir laden alle herzlich ein, sich uns, einer globalen Organisation des sozialen Kampfes, anzuschließen.1 Eine harte Zeit mag kommen. Setzen wir auf unsere stärkste und zärtlichste Kraft gegen die Härte des Alltags: Solidarität! Mit den verschiedenen 1. Mai-Veranstaltungen gibt es heute eine Gelegenheit, diese Kraft kollektiv auf die Straße zu tragen: in Wien um 10 Uhr vor dem Rathaus für bessere Bezahlung im Gesundheits- und Sozialbereich, um 12 Uhr auf der Mayday am Praterstern und um 15 Uhr bei der Fahrradaktion “Solidarität für alle!” am Ring; in Graz um 14 Uhr am Hauptplatz zu #SolidaritätStattNeuerNormalität; in Innsbruck um 11 Uhr am Landeshausplatz oder in Bregenz bei einer lifegestreamten Radioübertragung beim Milchpilz ab 16 Uhr. International gibt es ab 16 Uhr die Möglichkeit an der MAYDAY Radio Aktion von coview.info teilzunehmen.

See you on the streets!

1) Unsere aktuelle Kampagne gibt Einblicke in unsere Arbeistweisen, unser Konzept und unsere Zielvorstellungen: Gewerkschaft zum selber machen
Außerdem möchten wir euch gerne zu einem online-Podium am 2. Mai um 19 Uhr einladen. Auf Youtube werden Genoss*innen aus verschiedenen Erdteilen über Kämpfe in Zeiten von Corona berichten: From Covid to Collective Action
So wie unsere Klasse international ist, muss unsere Verständigung und Vernetzung transnational werden.